Wiederaufnahme der Themen vom Vortag unter der Leitung von Sarah Jasinszczak (Theaterpädagogin Theater Dortmund), Jelena Ivanovic (Choreographin, Tanzgebiete Essen) und Alexander Olbrich (Dramaturg am Theater Neuss). Harald Redmer (Theatermacher, Kulturberater, ehem. Leiter des NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste), fungierte als Moderator. Er sprach von der Corona-Pandemie als zusätzlichem Brandbeschleuniger für die Theaterlandschaft, der eine komplette Gewohnheitsänderung hervorgerufen habe. Einer Statistik zufolge sind 86 % des Publikums in der Spielzeit 21/22 weggeblieben. Das ist so dramatisch, dass die FAZ in einer Beschreibung des Zustandes und der damit verbundenen Zurückgezogenheit den Begriff der „Neues Biedermeier“ schuf.
Sarah Jasinszczak vom Theater Dortmund konnte sich dieser Darstellung im Wesentlichen anschließen. Es sei feststellbar, so Jasinszczak, dass nach anderthalb Jahren Theater ohne nennenswerte Publikumspartizipation das zurückkehrende Publikum ein anderes sei. Dem versucht man in Dortmund durch neue Wege zu begegnen, so versucht das Theater auch neue Zielgruppen zu erreichen. Diese Herangehensweise stützt eine These von Harald Redmer, dass das ältere Publikum nicht mehr zum Theater zurückkommen wird. In Dortmund gibt es nun „Ape“. Die Ape(lina) ist die mobile Veranstaltungsstelle des Schauspiel Dortmund. Das kleine pinke Gefährt ist ausgestattet mit einer Kaffeemaschine, ausklappbaren Stühlen und Liegen, einer Musikbox und einem kleinen Bücherregal. Ist die Ape(lina) an einem Ort angekommen, verwandelt es sich in eine kleine Spielstätte: Von Musik bis Lesung ist alles dabei.
Obwohl am Landestheater in Neuss die Auslastungszahlen gerade wieder anziehen, sagt Alexander Olbrich: „Wir machen Unterhaltung“ und „Am Ende der Spielzeit stehen hoffentlich mehr Leute oben, als unten.“ Gemeint sind Zuschauerraum und Bühne. Auch deshalb hat Neuss im letzten Jahr die Theaterabos abgeschafft, ausgelöst davon, dass wegen Coronaeinschränkungen und -ausfällen fast nichts mehr planbar war. Planungssicherheit ist verloren gegangen. Für einen freiberuflichen Schauspieler wie Matthias Hecht heißt das: „Mir kann das Spiel jederzeit genommen werden.“
Ganz andere Probleme hat Jelena Ivanovic aus der freien Theaterszene, denn zeitgenössischer Tanz, den sie über ihren Verein Tanzgebiet e.V. anbietet, hatte immer schon mit Publikum zu kämpfen. Mit sehr wenigem. Auch ihrer Meinung nach ist die FAZ-These vom neuen Biedermeier zutreffend. Wenn es in der Coronazeit darum ging, Zeit nur in einem engen Kreis mit Leuten zu verbringen, die einem nahe stehen ist diese Angewohnheit mitgenommen in die Postpandemie-Zeit . Eine Entscheidung zwischen Premierenbesuch oder häuslichem Kochabend mit Freunden würde heute eher zugunsten des häuslichen Kochabends ausfallen.
Auch in ihrer Veranstaltungsreihe „Kunstbaden“ im Grugabad in Essen – Bademöglichkeit im Freibad mit anschließendem Kunstevent – über das letzte Wort wurde an anderer Stelle noch sehr intensiv diskutiert – läuft Musik gut, Schauspiel und Tanz tun sich aber etwas schwer. Und es ist zu beobachten, dass trotz des Ortes nicht das typische Schwimmbadpublikum diese Veranstaltungen besucht. Gedacht ist, dass Publikum in die Aktion geht und Teil des Veranstaltungsabends wird, nicht bloßer Konsument bleibt. Deswegen müsse Theater aber für neu zugewinnendes Publikum nicht unbedingt niederschwellig sein. Wenn man entspannt ist, kann auch Anspruchsvolles angenommen werden, so Jelena Ivanovic. Aber, und das ist auch ein ganz wichtiger Punkt: „Ich habe als Theaterpublikum kein Gesicht“. Wünschenswert sei eine persönliche Ansprache der Besuchenden, um die Menschen wiederzugewinnen und mit ihnen zusammen neu zu beginnen. Und so soll es möglich sein, wieder mit Wohlwollen wieder ins Theater zu gehen.
Für die festen Theater – da ist sich die Runde einig – ist es schwierig aus der Struktur des Stadttheaters auszubrechen, denn auch wenn sich auf der Bühne im Laufe der Zeit fast alles verändert hat, hat sich kaum etwas im Publikumsraum getan. Manchmal scheitert es nur am Setting, an Getränkefragen und Aufenthaltsqualität – auch nach dem Theaterabend vor Ort – und etwa am Gestalten des Hinein- und Hinausausgehens.-Auch gibt es zahlreiche gestaltende Möglichkeiten während der Veranstaltung. Das Schauspiel Dortmund hat in dieser Richtung sogar bereits Baupläne entwickelt.
Außerdem wird darüber nachgedacht, die Heiligkeit, die gefühlte Unantastbarkeit der Kunst abzubauen. „Macht doch mal nur zwei Stunden statt drei“, meinte dazu Jelena Ivanovic. Und eine weitere Veränderung weg von der reinen Guckkastenbühne wäre, das ganze Haus in das Spiel einzubinden.
Ein ganz wichtiges, aber eher ungelöstes Problem stellt aber einfach die Frage nach der Generierung des neuen Publikums dar. Neben Social Media-Kanälen, könnte eine Einladung von bestimmten Berufsgruppen mit viel Publikumsverkehr, z.B. Frisöre oder Taxifahrer sein. Diese zu einer Hauptprobe einzuladen könnte dazu führen, dass sie ihren Kunden als Kontakt- und Neuigkeiten-Zentrale von ihrem Erlebnis erzählen und so für Interesse sorgen. Außerdem fehlen durch neue Arbeitsstrukturen dem Theater faktisch ganze Altersgruppen wie die der jungen Familien, die einer Bochumer Marketingstudie zufolge, Zeitfenster zur Verfügung haben, die nicht zu den momentanen Planungen von Vorstellung passen wie sie Theater vornehmen. Neue Vorstellungszeiten wiederum können neue Theaterformen möglich machen. Hierzu mehr am nächsten Tag des Symposiums.
Der Veranstaltungstag endete mit einem Konzert von Gipsy Swing gespielt von Volker Wendland & Gregor Hengesbach